Temperament oder Angst ?
Auch für geübte Augen ist manchmal schwer zu erkennen, ob ein Pferd temperamentvoll oder ängstlich ist. Gerne bezeichnen stolze Besitzer ihr Pferd als besonders temperamentvoll. Das es schlicht ängstlich ist, würde nicht in das Bild passen, das sie sich über ihr Tier gebildet haben.
Pferde sind echte Gewohnheitstiere. Sie reagieren auf jede Veränderung ihrer Umgebung argwöhnisch, stets bereit sich ihrem Instinkt entsprechend, der Situation durch Flucht zu entziehen. Zur Seite, nach vorn, nach hinten und wenn alle diese Wege versperrt sind, auch mal nach oben. Der eine oder andere Reiter hat damit schon Bekanntschaft gemacht. Aber es sind nicht nur Veränderungen der Umgebung. Alles Neue, Fremde oder Änderungen des gewohnten Ablaufs verunsichern das Pferd und lösen Fluchtbereitschaft aus. Natürlich ist auch hier die Palette der einzelnen Typen groß. Besonders schwierig ist hier der Typus, der äußerlich ruhig wirkt, aber innerlich tobt. Bei diesen Typen löst sich die Spannung explosionsartig, ohne die geringste Vorwarnung.
"Ein scheues Pferd erschreckt sich beinahe vor jedem Gegenstand. Diese Furcht entspringt einer natürlichen Zaghaftigkeit. Oft auch ist das Pferd zu viel geschlagen worden. Durch die Furcht vor Schläge und vor dem Gegenstand verliert es Mut und Standhaftigkeit."
François Robichon de la Guérinière
Es müssen nicht immer Schläge sein. Bei manchen Pferden reicht Zwang schon aus.
Und so unangenehm es auch ist, Schuld an der Angst des Pferdes trägt der Reiter. Sei es der derzeitige oder ein früherer, die die Psyche ihres Pferdes falsch eingeschätzt oder ignoriert haben. Nicht individuell, sondern schablonenhaft vorgegangen sind.
Niemand ist vollkommen. Aber man muss sich seine Unvollkommenheit auch eingestehen, Hilfe suchen und diese auch annehmen. Zum Wohle des anvertrauten Tieres. Gerade die Behandlung der Angst beim Pferd lässt sich aus Büchern nicht erlernen. Sie erfordert ein fachkundiges Auge. Experimente führen zu unnötigen Umwegen in der Ausbildung und dazu, dass sich die Angst verwurzeln kann, wenn die Angst zu lange andauert.
Meist löst Überforderung Angst beim Pferd aus und die setzt früher ein als man glaubt. Echte Temperamentsfehler sind eher selten. Hier den richtigen Weg zu finden, ist für den "normalen" Reiter fast unmöglich.
Wie früh Unsicherheit, die sich bis zur Angst steigern kann, einsetzt, will ich an einem Beispiel erklären.
Die Arbeit eines jungen Pferdes beginnt an der Longe. Relativ früh, zu früh, werden Hilfszügel verwendet um eine Beizäumung oder das Senken von Kopf und Hals zu erreichen. In allen einschlägigen Werken kann man nachlesen, das die Länge dieser Hilfszügel anfangs so bemessen sein muss, dass sie spannen, wenn das Pferd eine normale, entspannte Haltung einnimmt.
Die Kreisbahn ist für das junge Pferd ungewohnt. Bedingt durch die Fliehkräfte nach außen, muss es sich neu ausbalancieren und sein Gleichgewicht finden. Seine Balancierstange besteht aus Kopf und Hals. Unter Gleichgewicht versteht man nicht nur das ausbalancieren nach rechts und links, sondern auch das gleichmäßige Verteilen der Last auf die Vor- und Hinterhand. Typisches Anzeichen eines Pferdes, das die Vorhand zu stark belastet ist, das man es laufen hört. Also im Trab das typische bumm, bumm. Im Galopp eher bummbumm, bummbumm. Ein aus balanciertes Pferd hört man nicht laufen. Man hat den Eindruck, selbst bei etwas festem Untergrund, das Pferd laufe auf Schaumgummi. Auch ein ungerittenes, unbeeinflusstes Pferd hört man normalerweise nicht laufen.
Versetzen Sie sich in die Lage des Pferdes:
Sie sollen das erste Mal in Ihrem Leben über einen Schwebebalken laufen. Dabei bindet man Ihnen die Arme an den Körper. Aber Sie sollen über diesen Balken nicht nur laufen, sondern rennen. Und der Balken ist nicht gerade, sondern gebogen. Um den Bezug zum Reiten herzustellen, stellen Sie sich vor, dass man Ihnen jetzt noch ein Kind auf die Schultern setzt. Dieses Kind symbolisiert den Reiter der sich hin und her bewegt, weil sein Sitz noch nicht unabhängig und gefestigt ist. Wenn Ihnen diese Vorstellung unangenehm ist, wie geht es erst dem Pferd, das den ganzen Sinn und Zweck nicht versteht. Die Reaktionen reichen von Unsicherheit über Angst bis zur Panik.
Doch zuvor eine kleine Übung:
Gehen Sie auf alle Viere. Knie auf dem Boden, so das Oberschenkel und Arme senkrecht sind. Und nun rutschen Sie mit den Knien Richtung Hände bis zu den Händen. Das ging wahrscheinlich relative einfach, da Sie dabei Kopf und Schultern nach oben genommen haben.
Gehen Sie in die Ausgangsposition und bitten eine Person Ihren Kopf etwas herunter zu drücken und Sie daran zu hindern die Schultern zu heben. Rutschen Sie wieder mit den Knien zu den Händen bis Sie die Hände berühren. Sie fühlen ein Ziehen im Nacken, im Rücken, eventuell in Ihrem…na Sie wissen schon! Wenn Sie statt zu den Händen leicht schief werden, also mit dem linken Knie, links an der linken Hand vorbei und mit dem rechten Knie zwischen die Hände. Na? Etwas einfacher.
Dritte Variante: Mit den Knien außen an den Händen vorbei. Auch einfacher.
Ihnen ist zwar klar, dass nur dann der gewünschte Trainingseffekt erreicht wird, wenn die Knie genau hinter die Hände gesetzt werden. Das Ziehen und Zwicken in der Muskulatur ist der Indikator, dass sie trainiert wird. Dem Pferd ist der Sinn aber nicht klar. Warum zwicken und zwacken, wenn es auch ohne geht. Es versucht auf die bequemste Art dem Reiterwillen zu folgen. Lobt der Reiter dann noch, weil er das Ausweichen der Hinterhand nicht gesehen hat…. dann herzlichen Glückwunsch… wenn das Pferd es nicht schon konnte, jetzt haben Sie ihm das Schiefwerden oder Breittreten beigebracht. Spätestens beim Reiten von Versammlungen, werden Sie erkennen, wie falsch das war. Hört man dann auch noch das bumm, bumm läuft das Pferd auf der Vorhand und lässt die Hinterhand ausfallen. Weder Rücken, noch Hinterhand werden trainiert. Selbst wenn Kopf und Hals maximal gesenkt sind. Lediglich die Ausdauer verbessert sich, sowohl im positiven, als auch im negativen Sinn. Es tritt freiwillig nur soweit vor, dass kein Zwicken in der Rückenmuskulatur entsteht. Vorzeitiger Verschleiß und Bänderprobleme nehmen hier ihren Anfang. Aber auch Maul- und Zungenfehler, wie z. B. das Verschieben des Unterkiefers oder hochziehen der Zunge um sich dem unangenehmen Druck zu entziehen. Eine sichere und ruhige Anlehnung ist damit nicht möglich.
Wird das Pferd dann auch noch zu mehr Engagement der Hinterhand angetrieben, steigern sich Unsicherheit und Angst.
Aus Sicht des Pferdes sieht das so aus:
Es ist seiner Balancierstange beraubt und ringt um sein Gleichgewicht. Dies und das Tempo verunsichern es, machen ihm eventuell sogar schon Angst. Das notwendige Heben von Kopf und Hals beim Antreten ist durch den Hilfszügel unterbunden und verursachen jedes Mal einen unangenehmen Druck auf Lade und Zunge. Ist der Hilfszügel zu kurz und/oder zu tief eingeschnallt, entsteht eventuell ein Dauerdruck. Im Extremfall wird es widersetzlich. Dabei zwickt es in allen Bändern und Sehnen, weil die eine derartige Dehnung noch nicht gewöhnt sind. Nach wenigen Minuten Dauertrab gesellt sich dann ein Brennen in der Hals-, Rücken- und Hinterhandmuskulatur hinzu. So langsam geht auch die Puste aus und die Beine werden lahm. Mit diesen Empfindungen, mehr oder weniger stark schwitzend und frustriert, verlässt das Pferd den Longierzirkel. Daran wird sich das Pferd zu erst erinnern, wenn Sie morgen die Box betreten und wissen, dass jetzt der unangenehme Teil des Tages folgt. Vertrauen und tätige Mithilfe sind damit meilenweit entfernt.
Diese körperliche und geistige Überforderung kann sensible Typen "davon laufen lassen" oder es veranlassen, sich seiner Last entledigen zu wollen. Wird dies mit Gehwille oder Temperament verwechselt, hat das fatale Auswirkung auf die gesamte weitere Ausbildung.
"Wer sichere Schritte tun will, muss sie langsam tun."
Der enorme Erfahrungsschatz klassischer Reitkunst hilft hier sichere und bleibende Fortschritte zu erzielen, denn sie orientiert sich immer an den Signalen des Pferdes an seinen Ausbilder. Einfach gesagt, das Pferd sagt dem Reiter, ob es für den nächsten Schritt bereit ist und bestimmt damit den Zeitraum und die Größe der Schritte. Dies setzt voraus, dass der Ausbilder die Zeichen erkennt, richtig deuten kann und nicht schablonenhaft vorgeht.
" Es gibt viele Wege… aber der Weg den schon viele gegangen sind, führt auch nur dort hin, wo viele schon sind."