Das Wissen

"Die Meinung derjenigen, welche die Theorie für unnütz erachten, wird mich nicht abhalten, zu behaupten, dass dies eines der notwendigsten Stücke ist. Ohne die Theorie ist die Ausführung ungewiss. Um einen gewissen Grad an Vollkommenheit zu erlangen, muss man durch eine verständliche, gesunde Theorie, über die Schwierigkeiten, die mit der Ausübung verbunden sind, gehörig vorbereitet sein. Die Theorie unterrichtet uns nach den richtigen Grundsätzen zu arbeiten. Die Grundsätze müssen, statt der Natur entgegen zu stehen, sie zu vervollkommnen dienen.  Durch die Ausübung erhalten wir in der Anwendung dieser Grundsätze eine Fertigkeit." François Robichon de la Guérinière.

 

Das Wissen, das einen sehr großen Raum in der Reitkunst einnimmt, besteht aus den Komponenten Theorie und Praxis. Das ist die Kenntnis der Psyche und der Physiologie des Pferdes, den damit verbundenen Randgebieten wie Futterkunde, Sattelkunde, Zäumungslehre, Beschlagslehre usw., der Reitlehre, der Bewegungslehre, die natürlichen (physikalischen) Gesetze, denen jedes Pferd unterworfen ist und die daraus resultierenden praktischen Anwendungen.

 

Es ist schon wenigstens etwas, wenn der Reiter die äußeren Körperteile eines Pferdes benennen kann und die wichtigsten Knochen kennt. Genügt aber nicht. Anderseits ist es auch nicht nötig, jedes Band, jede Sehne, jeden Muskel und jeden Knochen bei seinem lateinischen Namen zu kennen. Gerne gemacht, um den anschließenden Ausführungen eine wissenschaftliche Note zu verleihen.

 

Viel wichtiger ist es die Kenntnis zu besitzen, wie die Abweichungen von der Norm zu behandeln sind und die Ausbildung bzw. die Verwendung des Pferdes beeinflussen. Vor allem Ursache und Wirkung voneinander trennen zu können. Die Wirkung ist meist einfach zu erkennen.

 

"Ist aber die Natur (das Pferd) widerspenstig, und ist man nicht im Stande, die Ursache, woraus diese Widersetzlichkeit entsteht, zu entdecken, so läuft man Gefahr, Mittel anzuwenden, die eher dazu geeignet sind neue Probleme zu  erzeugen, als diejenigen zu beheben, die man zu kennen glaubte" François Robichon de la Guérinière.

 

Unter Widersetzlichkeit verstand er nicht nur den offenen "Aufstand", sondern jegliches, auftretendes Problem.

 

Zwei praktische Beispiele:

 

Pferde mit zu engen Ganaschen neigen dazu über dem Zügel zu gehen, da ihnen die Beizäumung Schmerzen bereitet. Dem wird häufig schon beim Anreiten mit einem Dreieckszügel an der Longe begegnet. Nach ca. 15 Minuten scheint auch ein Erfolg einzutreten. Das Pferd lässt den Kopf fallen. Ein Trugschluss. Es hat den Zweck nicht "eingesehen", sondern seine Kräfte haben es verlassen. In der Phase des Wehrens und sei es nur das Drücken gegen den Dreieckszügel, hat das Pferd statt dessen den Unterhals trainiert. Diese Arbeit fortgesetzt, wird der Unterhals immer stärker. Ein Problem das den Reiter monatelang danach beschäftigen wird.

 

Manche Pferde neigen von Natur aus zu einem überschäumenden Temperament. Weit aus häufiger ist die mit jeder Ausbildung mehr oder weniger verbundene geistige Überforderung des Pferdes, die sich in Nervosität äußern kann. "Die sticht der Hafer" so die Fehleinschätzung und Futterkürzung ist das Mittel der Wahl. Unterschreitet die tägliche Eiweißzufuhr einen gewissen Wert, reagieren die meisten Pferde mit Nervigkeit. Das Problem wird nicht besser, sondern verstärkt sich. die Ursache liegt in der Arbeit selbst oder im Arbeitsmaß, nicht beim Futter

 

In anderen Fällen wird der Hafer 1:1 gegen Pellets oder Müsli ausgetauscht, weil es den Hafer angeblich nicht vertrage. Plötzlich wird das Pferd ruhiger. Mischfutter hat gegenüber Hafer im Durchschnitt 50 % - 100% mehr an Rohprotein, was in etwa einer Erhöhung der Haferration in gleicher Höhe entspricht. Die Ursache für die Ruhe ist nicht der Austausch des Futtermittels, sondern der Ausgleich der vorher zu geringen Futtermenge.

 

Gerade das Futterbeispiel zeigt, das ein hohes Maß an Wissen und Erfahrung für die Ursachenfindung nötig ist, um keiner Fehleinschätzung zum Opfer zu fallen. Es ist auch nicht schlimm, wenn man diese Erfahrung noch nicht hat. Schlimm ist, sich diese Unerfahrenheit nicht einzugestehen, die Ratschläge des Lehrers zu mißachten oder zu glauben ganz ohne Lehrer auskommen zu können. Bücher helfen, ersetzen aber nicht das fachkundige Auge.

 

Es nützt nichts, alles theoretisch zu beherrschen. Der Zusammenhang zwischen dem geschriebenen Wort und der Praxis erschließt sich dem Reiter erst in der praktischen Unterweisung durch einen erfahrenen Lehrer. Kein Buch kann so ausführlich und anschaulich sein. Es entstehen Missverständnisse und Fehldeutungen. besonders durch die sehr verständliche, menschliche Art nur das zu lesen was man lesen will oder so zu interpretieren das es in die eigenen Vorstellungen passt. Von frühester Jugend an habe ich jedes Buch über Reiten, das ich in die Finger bekam, verschlungen. Erst über die Unterweisung durch meine Lehrer, besonders durch Brigadier Kurt Albrecht, erschloss sich mir der Sinn der geschriebenen Worte und Leitsätze. Zu den Lehrern zähle ich nicht nur Reitlehrer, sondern auch Tierärzte, Hufschmiede und Pferdepfleger.

 

"Die beste Theorie nützt nichts, wenn ihr nicht die praktische Durchführung, der Beweis der Richtigkeit des Wortes, folgt. Andererseits aber ist es das theoretische Wissen, das uns den Weg zur Vollendung weist. Die Theorie ist das Wissen, die Praxis das Können. Immer aber soll das Wissen dem Handeln vorangehen. Die Richtigkeit dieser These zeigt sich besonders deutlich in der Reitkunst. Der Autodidakt wird stets mehr oder weniger Handwerker bleiben, trotz scheinbarer reiterlicher Erfolge. Nur dort wo ein theoretisches Wissen vorhanden ist, kann sich das Reiten vom rein Handwerksmäßigen zur Kunst erheben" Alois Podhajsky