Der denkende Reiter

"Jeder Bereiter muss sich vollkommen klar sein, auf welcher Stufe der Dressur sich das Pferd befindet, welches er arbeitet, wie über den Zweck, welchen er von Lection zu Lection verfolgen und schließlich erreichen will. Um den Zweck befragt, muss jederzeit mit kurzen Worten klar und deutlich Auskunft gegeben werden können. Mit einem Worte, der Bereiter muss nicht allein reiten, sondern auch denken, denn nur ein denkender Reiter wird mit möglichster Schonung des Pferdes in verhältnismäßig kurzer Zeit das Ziel, welches er sich gesteckt hat, erreichen."

 

Mit diesen Worten wird der Begriff des denkenden Reiters definiert. Was ist darunter zu verstehen?

 

"von Lection zu Lection…"

 

Unter dem Begriff "Lection" ist nicht der Begriff Lektion gemeint, wie man ihn heute verwendet. Auch nicht die Lektion im Sinne des Aufgabenheftes. Damals verstand man unter Lection die gesamte Trainingseinheit eines Tages. Man lehrte das Pferd etwas, man "lektionierte" es, heute nennt man es trainieren. Eine Lektion, wie z. B. der einfache Galoppwechsel nannte man Übung. Ein aneinanderreihen von Übungen, wie im Aufgabenheft, eine Reprise. Eine Reprise ist z. B. "Einreiten im versammelten Galopp. Im Mittelpunkt halten. Grüßen". Diese Reprise enthält 3 Übungen. Das Einreiten oder Abwenden im Galopp auf die Mittellinie. Das Geradeausreiten auf der Mittellinie. Das Halten aus dem Galopp.

 

"Jeder Bereiter muss sich vollkommen klar sein, auf welcher Stufe der Dressur sich das Pferd befindet"

 

Es wird also erwartet, dass der Reiter genauestens den momentanen Stand seines Pferde-Schülers kennt. In welcher psychischen und physischen Verfassung er sich befindet und was von ihm verlangt werden kann. Ebenso welche Probleme jetzt zu berücksichtigen sind, selbst wenn das bedeutet, einen Schritt in der Ausbildung zurück zu gehen.

 

"wie über den Zweck, welchen er von Lection zu Lection verfolgen und schließlich erreichen will."

 

Also systematisch und geplant von Tag zu Tag auf ein gestecktes Ziel hinarbeitet. Diese Systematik gilt innerhalb eines Tages auch für die Reprise und die dafür gewählten Übungen, um das Tagesziel zu erreichen. Damit geht einher, dass das Ziel so gewählt ist, dass es erreichbar ist und dennoch das Pferd in seiner Ausbildung voran bringt. Sinnloses umhertraben ist ebenso falsch, wie verbissenes bimsen. Bedeutet aber auch, flexibel auf die momentanen Erfordernisse einzugehen und den ursprünglich gefassten Plan spontan zu ändern.

 

" Um den Zweck befragt, muss jederzeit mit kurzen Worten klar und deutlich Auskunft gegeben werden können."

 

"Ich reite es locker" ist da keine gute Antwort. Einmal ist die Auskunft oberflächlich, andererseits muss man nur dann etwas lockern, wenn es sich vorher verspannt hat. Es müssen also Fehler in der bisherigen Arbeit eingestanden werden.

Der denkende Reiter kann deshalb so präzise Sinn, Zweck und Ziel seines Handelns erklären, weil er aus einem großen Repertoire aus Übungen schöpft, mit denen sich das Pferd mehr oder weniger aus eigenem Antrieb trainiert. Kernelement dieser Übungen ist eine, vom Pferd unbemerkte Beeinflussung durch den Reiter, die das Pferd eine bestimmte Handlung ausführen lassen oder bestimmte Muskelgruppen einzusetzen bzw. zu trainieren.

 

Viele dieser Übungen sind im Laufe der letzen 60 Jahre verloren gegangen. Nicht weil sie keinen Wert haben, sondern sich Sinn, Zweck und Ziel, mangels Anleitung und Erläuterung, nicht auf Anhieb erschließen. Das sind z. B. Plié, das kleine Viereck, Passaden usw.. Ohne entsprechende Anleitung und Erklärung, nur durch bloßes "Zusehen", erschließen sich Sinn, Zweck und Ziel nur wenigen, sehr weit fortgeschrittenen Reitern. Das ist auch der Grund, warum sie in Vergessenheit geraten sind. Der Wert dieser Übungen konnte nicht in Bezug zu den Anforderungen an das Training von Reitpferden gebracht werden.

 

Bewusst beschreibe ich diese Übungen nicht, weil sie, wenn sie richtig ausgeführt werden, ein Segen sind. "Abgeschaut" und "nachgeahmt" mehr Schaden, als Nutzen anrichten. Dazu sind zuviele Dinge, wie Ausbildungsstand von Reiter und Pferd, Tempo, Einwirkung usw. zu beachten. Vor allem Sinn und Zweck der Übung muss dem Reiter absolut klar sein. Nur wenn ich genau weiß, was ich erreichen kann und will, kann ich eine Übung gewinnbringend einsetzen. Wenn ich Sinn und Zweck nicht kenne, kann ich auch nicht beurteilen, ob die Ausführung gut war und das Ziel erreicht wird. Deshalb ist für diese Übungen die Unterweisung und Anleitung durch einen qualifizierten Ausbilder notwendig.

 

Ich hatte schon auf den vorangegangenen Seiten Merkmale skizziert, die den denkenden Reiter charakterisieren.

 

Die Größten sind Geduld und Einfühlungsvermögen. Wie weit diese beiden Merkmale bei Ihnen ausgeprägt sind, verrät Ihnen folgendes Experiment:

 

Besorgen Sie sich zwei Wollfäden von ca. 1,20 m Länge. Darf schon ein etwas dickerer Faden sein. Gehen Sie nun zu einer Kinderschaukel. Setzen Sie ein Kleinkind auf den Sitz oder beschweren den Sitz mit einem ähnlichen Gewicht. Nun befestigen Sie links und rechts am Sitz die Wollfäden. Nehmen Sie die Enden der Wollfäden wie Zügel in die Hand. Gehen Sie langsam auf Spannung. Achten Sie darauf, dass Sie gleichmäßig Spannung auf beiden Fäden haben. Durch sanftes schließen und öffnen der Faust bringen Sie nun die Schaukel zum Schwingen. Je mehr sie schwingt, umso mehr werden Sie auch mit den Armen und dem Oberkörper mitgehen müssen. Sie sollten erreichen, dass die Schaukel aus der Senkrechten 75 cm nach hinten und vorne schwingt. Ist dies erreicht, bringen Sie die Schaukel durch sanftes gegenhalten von Schwung zu Schwung wieder in den Ruhezustand.

 

Selbst geübten Reitern fällt diese Übung schwer. Ihnen wird wahrscheinlich mehrfach der Faden reißen. Beide Fäden in eine Hand genommen wird es leichter gehen, wenn Sie die Faust dabei so halten das die Knöchel nach oben weisen. Sie werden dabei sogar den Eindruck haben, dass Sie so kräftiger ziehen können. Das liegt daran, das Sie nur die Armmuskeln, nicht jedoch die Schulter- und Brustmuskulatur einsetzen, wie das beidhändig der Fall ist.

 

Um diese Übung noch etwas schwieriger zu gestalten und um den Effekt von Ablenkungen zu verdeutlichen, lassen Sie sich von einer zweiten Person Rechenaufgaben stellen.

 

Warum das Ganze?

 

So oft, wie Ihnen der Wollfaden gerissen ist oder ein kleiner Ruck entstanden ist, so oft wären Sie beim Reiten ungeschickt am Maul des Pferdes gewesen. Sie hätten die Anlehnung und den Takt gestört. Da das Reißen des Fadens, also die Störung, für das Pferd nicht vorhersehbar ist, verspannt sich das Pferd in Erwartung der Störung. Entweder in bestimmten Muskelgruppen oder sogar insgesamt. Eventuell würde es beginnen sich zu verhalten oder dem Zügel auszuweichen. Schlimmstenfalls alles zusammen. Die Palette der Reaktionen des Pferdes ist enorm. Nun wird Ihnen auch bewusst, das Einfühlung, eine große Konzentration und innere Ruhe erfordert. 95% der Fehler und Probleme die in der Arbeit mit dem Pferd auftreten, werden vom Reiter verursacht. Dem denkenden Reiter ist diese Tatsache nicht nur bewusst, sondern sucht bei jeder auftretenden Schwierigkeit, die Ursache zunächst bei sich und seiner Arbeit. Und zwar aktiv und nicht nur verbal.

 

Sollte Ihnen nach dem 5. oder 6. Versuch nicht nur der Wollfaden, sondern auch der Geduldsfaden gerissen sein, haben Sie noch einige Defizite in Sachen Geduld und Selbstbeherrschung aufzuarbeiten.

 

Mit falschem Ehrgeiz und Ungeduld geht hier gar nichts. Ehrgeiz ist grundsätzlich nichts Schlechtes, wenn es gelingt, ihn richtig zu kanalisieren. Sich selbst zur Ruhe, Geduld und Disziplin zu zwingen, ohne dabei die eigene Gelassenheit und Geschmeidigkeit zu verlieren, ist die persönlich schwierigste Aufgabe für den denkenden Reiter.

 

Diese eigene Überwindung schaffen viele, - zu viele -, Reiter nicht, weil sie die dafür nötige Disziplin nicht aufbringen können oder wollen.

 

Kurt Albrecht sagte dazu:

 

" …ist eine Voraussetzung damit Reiten zur Kunst wird. 80 % der Reiter schaffen diese eigene Überwindung nicht. Sie leben bei ihrer Arbeit von der hohen Ausgleichsfähigkeit, die Pferden von Natur aus eigen ist. Es könnten weit mehr sein, die den Sprung zur Kunst schaffen, wäre da nicht der innere Schw… , den es zu überwinden gilt."

 

Ähnliches drückten Podhajsky und de la Guérinière in Ihren Schriften aus, wenn sie von ausschließlich mechanischer Verrichtung oder Beschränkung auf rein handwerksmäßiges schreiben.

 

Einem Eleven an der Spanischen Hofreitschule standen mehrere Pferde zur Verfügung, die bis zur höchsten Klasse ausgebildet waren. Unter ständiger Aufsicht und Anleitung von Oberbereitern, die diese Pferde ausgebildet hatten, lernte er, diese zu reiten. Danach, ebenfalls unter Aufsicht und Anleitung, ein junges Pferd bis zur höchsten Klasse auszubilden. Um ein ausgebildetes Pferd reiten zu können erforderte, so Podhajsky, einen Zeitrahmen von 2 – 4 Jahren.

 

Zur Erinnerung:

 

Tägliches Training, auf bestens ausgebildeten Pferden, unter Anleitung von Ausbildern auf höchstem Niveau.

 

Um im Anschluss die Eignung zu erlangen junge Pferde auszubilden, weitere 4 – 6 Jahre. Auch hier wieder unter Anleitung und Aufsicht.

 

So ergibt sich eine Gesamtzeit von bis zu elf Jahren.

 

Wie lange dauerte es also beim "normalen Reiter", ohne dieses tägliche Training, hochqualifizierten Pferden und Ausbildern, eine solche Reife zu erlangen?

 

Heute glaubt man nach 2 – 4 Jahren aktiven Reitens Pferde und Reiter ausbilden zu können. Wie kann man glauben, wenn man gerade die Grundkenntnisse erworben hat – und mehr hat man nach vier Jahren noch nicht – Kunstwerke angehen zu wollen? Das erklärt die hohe Zahl hochtalentierter, teurer Pferde, die nicht einmal Mittelmäßigkeit erreichen, frühzeitig verschleißen und von mittelmäßig talentierten Pferden, unter gut ausgebildeten, denkenden Reitern, auf den Turnieren geschlagen werden. Ebenso der zunehmende Mangel an Kenntnissen und Fertigkeiten im Sattel.

 

"Daher kommt nun die geringe Anzahl gut abgerichteter Pferde, und die wenige Geschicklichkeit, die man gegenwärtig bei dem größten Teil derer wahrnimmt, die sich Reiter nennen."

François Robichon de la Guérinière

 

"Der Mensch kann nur dann Meister des Pferdes werden, wenn er Herr seiner eigenen Handlungen ist."

Freiherr von Oeynhausen, 1845

 

An beiden Zitaten hat sich bis heute nichts geändert und sind nach wie vor gültig.