Die Grundsätze

"Alle Wissenschaften und Künste haben Grundsätze und Regeln, durch welche man Entdeckungen macht, die zu ihrer Vollkommenheit führen. Nur die Reitkunst allein scheint einer bloßen Übung zu bedürfen. Eine von richtigen Grundsätzen entblößte Praxis ist eine rein mechanische Ausübung, die ein gezwungenes und ungewisses Ergebnis hat. Es entsteht ein falscher Glanz, der Halbkenner blendet. die eher die Schönheit des Pferdes, als die Geschicklichkeit des Reiters erkennen. Daher kommt die geringere Zahl gut ausgebildeter Pferde und die geringe Geschicklichkeit, die man gegenwärtig bei dem größten Teil derer wahrnimmt, die sich Reiter nennen.

Dieser Mangel an Grundsätzen hat die traurige Folge, dass Anfänger nicht im Stande sind, das Fehlerhafte von dem Vollkommenen zu unterscheiden. Sie haben kein anderes Hilfsmittel als die Nachahmung und unglücklicherweise ist es viel leichter sich zu einer fehlerhaften Ausübung zu wenden, als eine gute zu erlangen."  François Robichon de la Guérinière

 

Man glaubt nicht, dass diese Sätze vor fast dreihundert Jahren formuliert wurden und noch bis heute zutreffen.

Die Grundsätze muss man sich in ihrem Aufbau wie eine Pyramide vorstellen, über deren Spitze "Reitkunst" steht. Darunter liegen die elementaren Grundsätze. Jeder einzelne der elementaren Grundsätze vereinigt weitere Grundsätze, die wiederum weitere Grundsätze, Regeln und Gesetzmäßigkeiten vereinigen.

 

Eine dieser Gesetzmäßigkeiten ist zum Beispiel:

 

"Ein pressender Schenkel führt zum Absterben der Bewegung"

 

Positiv eingesetzt, ermöglicht dieser Satz, in Verbindung mit anderen Hilfen, ein geschmeidiges Wechseln des Tempos, der Gangart bis zum Anhalten des Pferdes. Negativ und falsch eingesetzt, kann es die Ursache für Verhalten, Triebigkeit oder gar Widersetzlichkeit des Pferdes sein.

 

Ein elementarer Grundsatz ist, dass Reitkunst niemals einseitig als "Hohe Schule" betrieben werden und die Verwendung des Pferdes nicht einseitig beschränkt sein darf. Sie vereinigt drei "Reitarten" und stellt damit sicher, dass ein nach ihren Grundsätzen ausgebildetes Pferd immer auch ein gutes Gebrauchspferd ist, gleichgültig für welchen Zweck es spezialisiert wird. Sowohl in versammelten, als auch in schnellen Gangarten, gleichgültig ob in der Reitbahn oder im Gelände. 

 

Die Gänge werden eingeteilt:

 

in die gewöhnlichen Gänge,

das sind Schritt, Trab und Galopp und deren Verstärkungen wie sie Pferde frei und unbeeinflusst zeigen. Dazu gehören auch Sprünge um vorkommende Hindernisse in der Natur zu überwinden.

 

die außergewöhnlichen Gänge,

die sie bei Spiel und Kampf mit Artgenossen oder im aufgeregten Zustand zeigen. Das sind auch Wendungen und Sprünge. Gemeint sind damit die ganze Parade zum Halt, Passage, Pirouette, Rückwärtstreten und die Schulsprünge wie sie an der Spanischen Hofreitschule gepflegt werden.

 

die künstlichen Gänge,

das sind die Versammlungen der Grundgangarten, die Seitengänge, Piaffe und das Reiten in Stellung, sowohl nach innen, als auch nach außen. Die Bezeichnung "künstlich" wird oft missverstanden. Besonders die Seitengänge, Piaffe, Passage und die fliegenden Wechsel werden mit "Kunststücken" verwechselt. die man wie in einer Pudeldressur lehrt und übt. Gemeint ist damit aber, das diese Gänge auf der Weide nicht zu sehen sind. Sie sind einerseits Folge der Weiterentwicklung der natürlichen Gänge, andererseits Mittel zum Zweck in der systematischen Arbeit. Auf keinen Fall steht "künstlich" für "unnatürlich". In den Directiven wird jede Form von Verkünstelung, Zirkusreitermache und Zirkuskunststücken streng untersagt, da sie den Weg in der Ausbildung nicht fördern und damit wertlos sind.    

 

Die klassische Reitkunst vereinigt drei Reitarten in sich:

 

Das Geradeausreiten

 

Das Reiten in möglichst natürlicher Haltung des Pferdes, in nicht versammelten Gangarten auf geraden Linien. Diese Reitart ist selbständig und kann für sich allein betrieben werden.

 

Die Campagneschule

 

Sie ist die Folge des Geradeausreitens und die einzige und richtige Vorbereitung als Grundlage für die Hohe Schule bzw. jede andere Spezialisierung. Sie beinhaltet das Reiten des versammelten Pferdes in allen Gangarten, Wendungen und Figuren in vollkommenen Gleichgewicht. Sie bildet die natürlichen Anlagen der Gänge und Haltung des Pferdes aus, kräftigen es, machen es biegsam und geschmeidig. Es werden nur die gewöhnlichen, natürlichen Gänge ausgebildet und die nötige Biegung von Rippen, Hals und Ganaschen, sowie die entsprechende Stellung erlangt. Da durchaus Natur ohne Kunst auskommt, niemals aber Kunst ohne Natur, darf erst nach der Vorbereitung durch diese Schule mit der Kunst, der "Hohen Schule", begonnen werden.

 

Die Hohe Schule

 

Sie beinhaltet das Reiten des Pferdes in, durch verstärkte Hankenbiegung, künstlich aufgerichteter Haltung in allen gewöhnlichen, außergewöhnlichen und künstlichen Gängen. Regelmäßigkeit, Gewandtheit und Geschicklichkeit werden durch den methodischen Weg, d. h. natürlich, zwanglos und einfach, zur höchsten Vollkommenheit gebracht. Ohne die beiden anderen Reitarten, besonders die Campagneschule ist die Hohe Schule nicht erreichbar. In der Campagneschule sind wichtige Vorübungen enthalten. Ohne diese Vorübungen wird z. B. eine Piaffe immer fehlerhaft sein. Deshalb erscheinen oberflächlich betrachtet die Übungen gleich zu sein. Der Unterschied liegt darin, dass man sich in der Campagneschule freut, wenn ein Pferd die Übung ausführen kann. In der Hohen Schule kommt es dann auf das "Wie" der Ausführung an. Die Reinheit und die Kultivierung der Gänge bleiben dabei immer im Vordergrund.

 

Das Klassensystem der Turniere kann nicht auf die einzelnen Schulen, besonders nicht auf die Campagne- oder die Hohe Schule angewendet werden. Diese beiden Schulen nach den Klassen aufteilen zu wollen, ist der Fehler unter dem die heutige Dressurreiterei leidet.  

 

Weitere Grundsätze und Aufgaben sind: 

  • der denkende Reiter
  • nicht schablonenhaft in der Ausbildung vorzugehen
  • sich an den Grundsätzen und Erfahrungen der alten Meister zu orientieren, ohne an veralterter Pedanterie zu hängen,
  • sich über andere ältere und neu erscheinende Werke über Reitkunst zu informieren und sich der Diskussion über Reitkunst nicht zu verschließen, da sie wesentlich für die Klärung der Begriffe ist.
  • die durch die überwiegend mündlichen Überlieferungen vielfach entstandenen unrichtigen Begriffe und Ansichten an Hand der alten Meister zu berichtigen und zu klären. Ebenso die irrigen und mittelalterlichen Vorstellungen über die Hohe Schule zu korrigieren.
  • Durch gründliche Anleitung jedem Reiter die Hohe Schule zugänglich und verständlich zu machen, damit sie nicht zum Monopol für Einzelne wird, die sie mit undurchdringlicher Mystik umgeben wollen.
  • Die Reitkunst in höchster Vollendung zu erhalten, ohne die Bedürfnisse und Anschauungen der Gegenwart zu vernachlässigen
  • Daran zu erinnern das die Grundsätze und Erfahrungen der klassischen Reitkunst die Grundlage der modernen Reiterei bilden.  

 

Diese sinngemäß wiedergegebenen Grundsätze, die noch um einige zu erweitern sind, wurden bereits vor über hundert Jahren aufgestellt. Genau das Gegenteil, von dem, was landläufig über klassische Reitkunst behauptet wird und moderner ist als man denkt.

 

Auf den folgenden Seiten werde ich auf die Bedeutung dieser grob zusammen gestellten Grundsätze in der praktischen Ausbildung von Reiter und Pferd tiefer eingehen.